Freitag, 23. Juli 2010

Die Liste, Teil 1

Mein Wecker läutet. Ich öffne langsam und mühsam meine Augen und greife nach ihm, um ihn auszuschalten. Das nervende Klingeln dröhnt immer noch in meinen Ohren, obwohl er schon seit drei Sekunden ausgeschalten ist. Ich drehe mich in meinem warmen Bett um und murmle mich dicker in die Decke ein. Ich will nicht in die Schule gehen. Nicht heute.



Ich sitze im Flugzeug und starre aus dem Fenster. Die Wolken schauen aus wie weiße Zuckerwatte, als könne man nach ihnen greifen oder gar essen. Ich schließe meine Augen und denke an Julia und Lisa. Was sie wohl gerade machen? Ich öffne meine Augen, um aufzustehen, doch ich bin nicht mehr im Flieger. Ich sehe ein großes Schulgebäude vor mir. Das Grundstück ist von einer Mauer umgeben und schließt ein großes Eisentor ein. Es erinnert mich mehr an einen Friedhof als an ein Schulgebäude. Ich gehe einen Schritt zu und betrete das Grundstück. Der Kies macht ein merkwürdiges Geräusch unter meinen Turnschuhen und alle Schüler starren mich an. Ich bin kein Emo. Kein Punk. Oder sonstiges. Ich bin ich und wenn sie damit ein Problem haben, ist es mir egal. Ohne mich eine Sekunde den anderen zu widmen, gehe ich auf den Schuleingang zu. Ich mache die Tür auf und alles beginnt sich zu drehen. Die Schüler tuscheln, halten ihre Hände vor den Mund und reden miteinander. Einige zeigen sogar auf mich und ich bleibe wie angewurzelt stehen. Irgendetwas läuft hier schief. Wie gerne ich doch meine zwei besten Freundinnen neben mir hätte, die mich immer und in jeder Lage unterstützen.



Plötzlich packt mich jemand an den Schultern. Ich schrecke auf und sehe meiner Mutter in die Augen.
„Du bist ja doch munter!“
„Hö?“, ich schaue verschlafen um mich herum. Ich bin in meinem Zimmer, in meinem Bett. Kein Flugzeug. Keine Schüler, die mich anstarren. Alles wie gewohnt. „ich bin wohl wieder eingeschlafen…“ und habe einen Albtraum gehabt.
Meine Mutter zieht eine Augenbraue hoch und verlässt mein Zimmer.
Ich drücke die Decke weg. Ich stehe mit Mühe auf, gehe zu der Kommode mit dem Spiegel darüber und schminke mich. Es ist merkwürdig, dass ich vorher mich schminke und mich dann erst umziehe, aber so ist nun mal mein Morgenritual.
Ich bücke mich und ziehe rasch meine Socken an, nehme meine Schultasche und schlendere in das Vorzimmer.
„Bin schon auf“, rufe ich meiner Mutter zu, während ich die Küche betrete.
„Morgen“, erwidert sie mürrisch. Sie ist jeden morgen mürrisch. Besonders wenn sie müde ist, was so gut wie an jedem Schultag ist.
Ich trotte auf die Theke zu und nehme eine große Banane aus der Glasschüssel. Ein Knick und schon ist die Banane offen.
„Mama, können wir heute früher fahren?“, frage ich meine Mutter.
„muss das sein?“ Sie nimmt einen Schluck von ihrem Kaffee.
„ja, wenn ich schon wegziehe, will ich wenigstens noch so viel zeit mit meinen Freundinnen verbringen, wie ich kann“

Sie nickt genervt, steht auf und nimmt einen letzten Schluck ihres Kaffees.

„gehen wir“, erwidert sie schroff und schaut mich beim vorbeigehen nicht an. Ich lege die Bananenschale auf die Theke, nehme meine Tasche und gehe hinaus zum Auto. Ich steige ein und schließe die Autotür.

„Bist du angeschnallt?“

Ich nicke ihr im Rückspiegel zu. Sie fährt los. Ich kann es kaum erwarten Julia und Lisa zu sehen. Ich bin schon gespannt, was wir auf diese Liste schreiben werden.

Freitag, 16. Juli 2010

Schlechte Neuigkeiten, Teil 3

Jemand klopft an meine Zimmertür.

Ich gebe ein Murren von mir und drehe mich in meinem Bett um.

„Geht es dir schon besser?“ Es ist die Stimme meiner Mutter. Ich höre sie durch mein Zimmer gehen und spüre, dass sie sich auf mein Bett setzt.

„Aber schau, du kannst sie doch ja besuchen kommen. In den Sommerferien kannst du dann, wenn du willst, die ganze Zeit mit ihnen verbringen“, bietet sie an.

„Es ist aber nicht das gleiche, verstehst du? Meine Freundinnen sind nicht austauschbar und ich werde nicht dieselben jemals wieder finden“, erkläre ich ihr mit zitternder Stimme.

Ich drehe mich um und schaue in ihre blauen Augen.

„Du musst mitkommen. Wir haben alles schon gebucht“, erzählt sie.

Mir stockt der Atem. Gebucht? Heißt das etwa, sie weiß schon länger davon?!

„und wann….?“ Ich habe keine Stimme mehr.

„Ende der Sommerferien. Dein Vater wird vorfahren. Er wird das Haus fertig machen und wir fliegen Ende der Sommerferien dorthin“, erwidert sie.

Ich werde anscheinend die ganzen Ferien über nicht zu Hause sein. Die ersten vier Wochen in der Türkei und dann zwei Wochen in Deutschland bei meinen Großeltern.

„Müssen wir wirklich…“, beginne ich.

- „ja. Es ist schon beschlossene Sache“, unterbricht sie mich. „ich lasse dich jetzt erst mal in Ruhe. Du willst doch alleine sein, oder?“

Ich nicke. Sie steht auf und verlässt mein Zimmer.

Beschlossene Sache…

Ich greife nach meinem Handy und wähle Lisa’s Nummer. Ich muss dringend ihr es erzählen. Ich brauche jemanden zum Reden. Ich wünsche mir nichts lieber, als mit ihr zu reden.

„Warum warst du vorher nicht mehr online in Facebook?“, beginnt Lisa, als sie abhebt.

„Ach, nicht so wichtig. Ich muss dir etwas mitteilen“, erwidere ich langsam.

„Ist etwas passiert?“

- „könnte man so sagen…“ Ich will damit einfach nicht rausrücken. Wie sie wohl reagieren wird?

„Erzähl schon!“, hackt sie nach.

„Nein, es ist nichts Gutes“, beginne ich, „aber ich muss es ja loswerden. Ich werde umziehen“ Ich bekomme einen Kloß im hals.

Ich höre sie husten. „Das ist doch toll! Und, wie schaut das Haus aus?“

-„genau das ist das Problem! Ich werde in die USA ziehen!“

Lisa antwortet nicht. Ob sie nachdenkt, was sie sagen soll? Oder ob sie es gerade Julia auf Facebook schreibt? Ob sie Tränen bekommt und sie versucht hinunterzuschlucken oder es ruhig aufnimmt?

„Bist du noch da?“, frage ich leise in das Handy.

„Mm… ich kann es nur nicht glauben! Wieso?“, erwidert sie mit gesenkter Stimme.

-„mein Vater und sein Job.“

„dann müssen wir ja viel machen!“, sagt sie aufmunternd.

„was machen?“ Ich bin verwirrt. Ich stehe von meinem Bett auf und gehe in meinem Zimmer auf und ab.

„stimmt es?“ Lisa hat anscheinend jetzt auch Julia zu der Telefonsitzung eingeladen, denn es ist Julias Stimme.

„ja…“, murmle ich leise.

„Oh mein Gott“, Julia betont jede Silbe einzeln, „ich kann es nicht glauben“

Ich sage nichts. Ich muss mich zusammenreißen, dass ich nicht in Tränen ausbreche.

„ich habe eine Idee“, Lisa bricht das Schweigen. „wie wäre es, wenn wir eine Liste machen, sie du erledigen musst, bevor du abreist?“

„muss das sein?“, murre ich zurück

„tolle Idee!“, meldet sich auch Julia zu Wort.

Ich muss lachen. Diese Idee ist witzig. Aber doch irgendwie gut. So werde ich vielleicht viel mehr Zeit mit meinen Freundinnen verbringen als zuvor. Und es wird vielleicht ein toller abschied werden. Wer weiß?


Freitag, 9. Juli 2010

Schlechte Neuigkeiten, Teil 2

Manchmal nervt mich meine Mutter schon so richtig.

„Doch“, sie kommt auf mich zu und will mich umarmen. Doch ich drehe mich um.
„Warum? Ist dir dieses Haus nicht gut genug?“, fahre ich sie an.

„Aber schatz…“, beginnt sie und umarmt mich Widerwillen. „es geht nicht um das Haus. Es geht um den Job deines Vaters“

Das bedeutet nichts Gutes. „Und?“, meine Stimme bricht ab. Ich glaube ich ahne es…

„Er hat ein fantastisches Jobangebot bekommen! Er bekommt den doppelten Lohn“

„Wo ist der haken?“ man kann deutlich den Misstrauen in meiner Stimme hören.

„Wir werden nicht nur das Haus wechseln, sondern auch die Stadt. Oder besser gesagt das Land…“, erklärt sie mit sanfter Stimme und streichelt mir den Kopf.

Mir steigen tränen in den Augen auf und meine Nase rinnt. „Niemals!“

„Ich weiß, dass es schwer für dich ist…“

„Willst du nicht, dass ich glücklich bin mit meinen zwei Freundinnen? Gönnst du mir nicht, dass ich einmal in meinem Leben glücklich bin?“ Ich bekomme einen Kloß im Hals.

„Natürlich will ich, dass du glücklich bist. Du bist mein Sonnenschein. Du bist das wichtigste in meinem Leben“ Sie drückt mich fester an sich. „Aber du weißt doch, wie viel der Job ihm bedeutet. Er arbeitet hart…“

„Aber…“, bringe ich mit Mühe hervor, „ich… was, was wird aus meinen Freundinnen?“

Sie lässt mich los und schaut mir tief in die Augen. „Schatz, du weißt, dass ich das sagen muss, aber sie bleiben hier. Du kannst sie doch nicht mitnehmen. Was würden ihre Eltern dazu sagen?“ Sie grinst. „Das ist doch nicht so schlimm. Du findest doch neue Freundinnen“

Ich schaue sie entgeistert an. Meint sie das im ernst? Ich finde neue Freundinnen? Nichts und niemand kann Lisa und Julia ersetzen!

Ich schüttle den Kopf. „Ich will aber nicht. Dann bleibe ich halt hier“ ich verschenke die Arme vor mir.

„Aber wo willst du dann wohnen? Vertrau mir. Es wird nicht so schlimm, wie du es dir vorstellst. Außerdem hast du noch genug Zeit mit deinen Freundinnen… und das neue Land gefällt dir bestimmt“, erwidert sie.

Eine Träne rollt über meine Wange. „Bei Lisa. Sie nimmt mich bestimmt auf“ Ich schlucke. „und wohin ziehen wir, wenn ich fragen darf? Ich werde langsam gereizt. Am liebsten will ich jetzt aufspringen und irgendetwas zerstören. Ich bin so wütend.

„ich sag nur ein Wort: USA“ sie nimmt meine rechte Hand und streichelt sie. „vertrau mir. Es wird nicht so schlimm“

„in die USA? Ein anderes Land? Wohl besser gesagt: ein anderer Kontinent!“, schreie ich sie an, „wie kannst du mir so etwas antun?“ Ich springe auf, werfe die Vase, die auf dem Couchtisch steht, um und laufe in mein Zimmer.

„Vanessa!“, ruft meine Mutter mir nach.

Das kann doch nicht wahr sein! Das muss doch ein Albtraum sein. Ich will aufwachen und zwar sofort.

Ich zwicke mir in den Arm. Nein, kein Traum. Es ist die Wahrheit. Die Realität.

Ich werde in ein anderes Land ziehen. Zu einem neuen Kontinent. Auf eine neue schule gehen. Alle werden mir fremd sein.

Was dann wohl aus meinen zwei besten Freundinnen wird? Ob sie mich vergessen werden? Ob sie denken, dass es ein Scherz ist, wenn ich ihnen davon erzähle?

Ich weiß es nicht. Ich kann nicht klar nachdenken. Ich kann es noch nicht einmal glauben.

Mir laufen Unmengen an Tränen herunter und ich verstecke mein Gesicht in meinem Kopfpolster.

Ich schluchze, ich schniefe. Und alles in meinen Kopfpolster hinein.

Meine Mutter versteht mich nicht. Kein bisschen.

Sonntag, 4. Juli 2010

Schlechte Neuigkeiten, Teil 1

„Hey, schatz. Wie war die Schule?“ Meine Mutter sitzt in der Küche. Die Küche ist ziemlich groß. Eine der Wände ist rot gestrichen, die Einrichtung ist modern. Meine Mutter hat sie letztes Jahr erneuern lassen, weil die alte etwas abgenutzt war und man diese schwer reinigen konnte.

Wenn man den Raum betritt ist gegenüber ein großes Fenster mit einer Tür, durch die auf die Terrasse gelangt.

In der Mitte steht eine Theke, die an den Möbeln angeschlossen ist. Und davor stehen Barhocker.

Meine Mutter hat nicht an Geld gespart, ganz im Gegenteil sie meint immer, es sei besser mehr Geld in etwas zu investieren, statt zu wenig.

Ich bin eigentlich das Gegenteil. Mir reicht es, wenn ich etwas Billiges kaufe, egal wie lange es hält.

„Wie immer. Nichts Besonderes“, erwidere ich schroff und nehme mir eine Wasserflasche aus dem Kühlschrank.

„Willst du dann später mit einkaufen gehen?“, meine Mutter steht vom Barhocker auf und kommt auf mich zu. „hier das Geld für das englisch Buch. Ich habe es vergessen dir heute zu geben“

Meine Mutter reicht mir den 10-Euroschein und ich nehme ihn entgegen.

„Danke“, erwidere ich. „ich gehe jetzt in mein Zimmer. Ach ja, wann kommt Papa wieder heim?“

„Er macht heute Überstunden“, antwortet sie und geht zurück zur Theke und setzt sich.

Ich drehe mich um und gehe in mein Zimmer.

Ich stelle meine Tasche neben den Schreibtisch und setze mich auf mein Bett.

Ich starre die gegenüberliegende Wand an. Es klebt ein Poster von Lady Gaga darauf, sonst noch zwei Fotos meiner zwei Freundinnen und nicht mehr.

Mein Schreibtisch ist nicht besonders aufgeräumt, am Teppich liegen ein paar Brösel und der Kleidschrank scheint überfüllt zu sein, weil die Kastentüren nicht ganz zu gehen. Das liegt daran, weil ich immer alles reinstopfe, statt es schön geordnet hinein zu legen.

Ich neige mich zu meinem Nachttisch und greife nach meinem Laptop.

Ich schalte ihn ein und warte bis er hochgefahren ist, um mich in Facebook einzuloggen.

Währendessen es lädt schaue ich aus dem Fenster hinaus. Der Baum blüht schon und die Wiese ist so schön grün. Ein wunderschöner Anblick.

Blubb. Ich habe eine Chatnachricht in Facebook bekommen. Verwirrt schaue ich auf den Bildschirm. Lisa hat mir geschrieben.

ich antworte: Hey

sie: Wie geht’s?

ich: Gut und dir?

sie: Mir auch. Weißt du was? Ich habe den Jungen von heute Vormittag hier ausfindig gemacht!!

ich: Nicht dein ernst!

sie: Doch, und ich habe ihm gesagt, er solle dich adden.

ich:Und?

sie: Rate mal. Du müsstest eigentlich schon eine neue Freundschaftssanfrage haben.

Ich schaue so schnell wie das Internet es zulässt nach und tatsächlich. Eine anfrage von Martin B. ich grinse. Lisa hat es tatsächlich geschafft seinen Namen herauszufinden.

ich:Wie cool. Und lädst du ihn zur Party ein?

sie: Ob ich das werde? Süße, in welchem Jahr lebst du denn noch? Das habe ich schon längst!

Ich muss lachen. Wenn es um Jungs geht, ist sie die Beste.

ich:Wow. Ich bin neidisch.

sie: Brauchst du nicht. Für dich werde ich auch noch jemanden finden.

ich:Nein, das brauchst du wirklich nicht.

sie: Doch!


Ich logge mich mit Absicht aus. Bei Diskussionen zwischen uns gewinnt immer sie. Egal worum es geht. Sie hat die besten Argumente und gegen diese komme ich nicht an.

Ich lege meinen Laptop beiseite, stehe auf und gehe zu meinem Schreibtisch. Ich stelle meine schwarze Tasche darauf und krame mein Mathematikbuch heraus.

Ich schlage die dementsprechende Seite auf und setze mich. Der Sessel knarrt wie jedes mal, obwohl die Schrauben fest genug befestigt sind.

‚Trigonomie’ steht als große Überschrift für ein neues Kapitel.

‚Ein Außenwinkel ist gleich groß wie die Summe der beiden nicht-anliegenden Innenwinkel’

Ich stehe auf mit dem Buch in der Hand, gehe auf und ab und murmle den Satz vor mir hin. So lerne ich immer und, soweit ich mich erinnern kann, hat es bisher immer geklappt.

„Vanessa!“ ich höre eine laute stimme.

Ich eile aus meinem Zimmer ins Wohnzimmer. Das Wohnzimmer erinnert einen an Afrika. Die wände sind orange, der Boden ist dunkel und die dazupassende Couch darf auch nicht fehlen.

„Was ist?“, frage ich mit großen Augen.

„Wir… werden umziehen“, beginnt meine Mutter.

„Nein!“, erwidere ich spontan und lasse mich auf die Couchlehne fallen. Das kann doch nicht ihr ernst sein. Wieso will sie umziehen? In ein noch besseres haus, als dieses hier? Gibt es noch ein besseres, das ihrem Geschmack entspricht?

Wir wohnen jetzt in einem Bungalow. Es gibt nur eine Etage und ich finde es richtig cool. Und was will meine Mutter schon mehr, als den Bungalow, einen schönen und gepflegten Garten und einen BMW?